Der Erfahrbare Atem nach Prof. Ilse Middendorf

„Wir lassen unseren Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt“
(Ilse Middendorf)

Ilse Middendorf (21.09.1910 bis 02.05.2009) war eine der führenden Expertinnen auf dem Gebiet der Arbeit am Atem. In über 70 Jahren entwickelte sie einen Weg zur Erfahrung unseres natürlichen und individuellen Atemgeschehens, den sie „Erfahrbarer Atem“ nannte. Ilse Middendorf hat bis kurz vor ihrem Tode noch in dem 1965 von ihr gegründeten Institut in Berlin Kurse geleitet. Am 2. Mai 2009 ist sie 98-jährig in Berlin gestorben.
Der Erfahrbare Atem ist ein Weg den eigenen, natürlichen Atem kennen zu lernen.

Die Arbeit mit dem Erfahrbaren Atem ist sinnvoll für alle,

  • die sich selbst erfahren und entwickeln wollen
  • die ihren Alltag aus eigener Kraft und innerer Gelassenheit gestalten wollen
  • die ihre Gesundheit fördern und stabilisieren wollen
  • die ihren eigenen Rhythmus, ihr eigenes Maß und ihre Intuition entdecken wollen.

Der Atem, eine der vegetativen Lebensfunktionen:

Normalerweise sind wir uns gar nicht unseres Atems bewusst, er passiert einfach von alleine, ohne dass wir etwas dafür tun müssen. Als vegetative Funktion, ähnlich wie unser Herzschlag, sorgt die Atmung autonom für den Erhalt unseres Lebens.

Nur in besonderen Situationen, z.B. unter starkem Stress, merken wir, dass uns der „Atem stockt“. Umgekehrt, wenn wir gerade sehr glücklich sind, erfahren wir, wie schön es sein kann, tief und befreit zu atmen. So ist unser Atem ein Spiegel unseres Lebens, er reagiert auf alle Nuancen unseres inneren und äußeren Seins. Gleichzeitig wirkt unser Atem zurück auf unser Befinden. Die meisten kennen wahrscheinlich die Erfahrung, wie wir in aufregenden Zeiten mit einem herzhaften Seufzer wieder zur Ruhe kommen.

Keine andere vegetative Funktion ist so leicht vom eigenen Wollen beeinflussbar, wie die Atmung. Jeder von uns kann durch willentlichen Einsatz sofort den Atem anhalten, oder schneller, langsamer, tiefer, flacher usw. atmen.

Ilse Middendorfs Arbeit hat zum Ziel, den von alleine kommenden, natürlichen Atem bewusst zu erleben, ohne ihn dabei willentlich zu beeinflussen oder in seiner Natürlichkeit zu stören.

Im rechten Gleichgewicht von Hingabe und Achtsamkeit erfahren wir dabei den Atem als Quelle für Inspiration und für neue Ressourcen in uns.

Die praktische Arbeit fußt auf drei Säulen:

Empfindung
Empfinden meint die körperliche Wahrnehmung und ist konkret mit der Funktion des senso-motorishen Systems verknüpft. Empfindung ist die Grundlage dafür, dass ich mir meiner Atembewegung überhaupt bewusst werden kann. Im Erfahrbaren Atem wird eine sehr differenzierte Empfindungsfähigkeit entwickelt.

Sammlung
Sammlung ist meine gerichtete Aufmerksamkeit zu einer bestimmten Region meines Körpers. Ich wende mich mit Sammlung meinem inneren körperlich wahrnehmbaren Geschehen zu; ich nehme mich körperlich wahr. In der Sammlung erfahre ich einen Zustand besonderer Wachheit und Klarheit.

Atmen
Ich lasse meinen Atem zu. D.h. weder hole ich ihn willentlich, noch überziehe ich ihn, noch bremse ich ihn. Ich erlebe, dass ich meinen natürlichen Atem dort spüren kann, wohin ich gesammelt bin. Wir nehmen unseren Atem als Bewegung wahr. Physiologisch gesehen, geht die Atembewegung vom Zwerchfell aus, das als „Muskelsegel“ mit jedem Atemzug schwingt. Diese Schwingung des Zwerchfells breitet sich durch unser weit verzweigtes Bindegewebssystem im ganzen Körper aus und kann – bei entsprechender Erfahrung – auch überall in unserem Körper gespürt werden.

Zwei Aspekte stehen im Vordergrund:
salutogenetische Orientierung und Entwicklung.

Salutogenetische Orientierung:
Die Schulung der Selbstwahrnehmung und Empfindungsfähigkeit fördert das Gespür dafür, was mir gemäß ist und was nicht; Kreativität und Intuition wachsen. Mein Atem zeigt mir, was in mir lebendig ist. Durch diese Arbeit werden unsere Selbstheilungskräfte und unsere Gesundheit unterstützt.
Das bewusste Erleben meines natürlichen Atems verbindet mich mit meinen inneren Lebensprozessen. Ich erlebe mich als atmender Mensch in meiner gesamten Lebendigkeit. Es entwickelt sich eine besondere Form der Selbstakzeptanz und Gelassenheit.
Die Erfahrung, dass der Atem tatsächlich von alleine kommt, ohne dass ich dafür aktiv etwas tun muss, sondern, dass es einfach geschieht, fördert in besonderem Maße ein tiefes Vertrauen in die Lebensprozesse, die sich in mir vollziehen. So gelingt es oft auch im Alltag, den täglichen Anforderungen mit mehr Vertrauen und Gelassenheit zu begegnen.

Entwicklung:
Der Erfahrbare Atem ist ein Entwicklungsweg. In der Arbeit erfahre ich, dass mein Atem mich innerlich bewegt und mit zunehmender Durchlässigkeit werden die inneren Atembewegungen auch als äußere Bewegungen sichtbar: Meine vom zugelassenen Atem getragenen Bewegungen werden gestaltend und ich erkenne mich darin selbst und erlebe neue vitale Kräfte, die mir zuwachsen. Ich komme mit tieferen Schichten meines Seins in Verbindung, es entsteht eine Präsenz, aus der heraus ich mich so zeige, wie ich bin.

Arbeitsmethoden:

Einzelarbeit: Dauer ca. 60 Minuten. Der Klient liegt während der Atembehandlung bekleidet auf einer Liege. Der Therapeut erspürt mit den Händen den Atem des Liegenden. Es werden Impulse gegeben, auf die der Klient meist unwillkürlich reagiert. So entsteht ein nonverbales „Atemgespräch“. Anzahl der Behandlungen und zeitlicher Abstand variieren individuell.

Gruppenarbeit: Dauer 60-90 Minuten wöchentlich oder in 3-5 tägigen Intensivseminaren mit 5-20 Teilnehmerinnen. Die Arbeit findet überwiegend im Sitzen auf Hockern oder im Stehen statt. Durch einfache Bewegungs- und Dehnungsübungen erfahren wir wie vielfältig der Atem in uns wirkt. Wir werden nach und nach mit unseren ursprünglichen Atembewegungen vertraut gemacht. Nach jeder Übung können wir sitzend im Stillen für uns nachspüren. Vieles, das sich verändert wird erst im nachhinein deutlich und bewusst. Anschließend können wir uns gemeinsam über das Erlebte verbal austauschen. Anfänglich sind es überwiegend geführte Bewegungen, um den Atem zu locken und erfahrbar zu machen. Mit zunehmender Übung rückt mehr und mehr der kreative Aspekt der Arbeit in den Vordergrund. Im bewussten Zulassen des Atems werden innere Kräfte frei, die nach außen als Bewegung zum Ausdruck gebracht werden. Hier betreten wir den weiten Raum der Selbsterkenntnis und Entwicklung, der im Grunde kein Ende findet.